Wort des Pfarrers im Juni 2022
Stumm sind die wirklich Schwachen
„Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen!“ So heisst es in der Bibel Sprüche 31, 8. Wer würde heute diesem Spruch nicht sofort zustimmen? Ja, ihn vielleicht sogar auf eine Fahne schreiben? Das wäre etwas, ein Bibelzitat auf den Fahnen derer, die an einer Demonstration gegen Rassismus und Diskriminierung durch die Strassen marschieren!-
Es ist heute ja eine Mode, ja mehr als das, eine Ideologie, (vielleicht sogar eine neue Art des alten marxistischen Klassenkampfes, wie einige befürchten), die wie so häufig aus Amerika auch zu uns gekommen ist: Sich einzusetzen für die verschiedensten „Schwachen“, die von „Starken“ unterdrückt werden. In den USA wurde dafür vor wenigen Jahren ein englischer Begriff geprägt: „woke“, auf deutsch etwa „aufgewacht“. Als „woke“ / „aufgewacht“ bezeichnen sich diejenigen, die meinen, erkannt zu haben, wie sehr angeblich irgendeine Gruppe Menschen, häufig sind es Minderheiten, von anderen Menschen benachteiligt, ausgenutzt, unterdrückt und misshandelt worden sei oder immer noch würde. Seien es Frauen von Männern, Dunkelhäutige von Hellhäutigen, homosexuell Empfindende von heterosexuell Empfindenden, sogenannt „Queere“, also Menschen, die sich weder als Mann noch Frau bezeichnen, von Männern und Frauen. Die Liste ist lang und wird immer länger.
Auf der einen Seite hat es sein gutes Recht, wenn Unrecht benannt und bekämpft wird. Denn es ist ja so, überall auf der Welt tun wir Menschen einander Unrecht und Böses. Die Bibel nimmt da kein Blatt vor den Mund: Wir Menschen sind Sünder. Und es ist richtig und gut, wenn wir dort, wo wir auf Unrecht und Bosheit stossen, nicht einfach bequem wegschauen, sondern mutig und streitbar sind, auch dann, wenn ein kritisches Wort, ein Einschreiten zu Unannehmlichkeiten führen könnte.
Andererseits lässt sich leider beobachten, dass viele dieser „Aufgeweckten“ selber immer intoleranter und repressiver agieren. Menschen, die anderer Ansicht sind, werden an ihrer freien Meinungsäusserung gehindert. Wenn sie es trotzdem tun, werden sie diffamiert und zu Parias gemacht von denen, die sich angeblich für die Schwachen einsetzen. Ja es kommt vor, dass sie sogar ihre Arbeit verlieren, nur weil sie etwas geäussert haben, was der letzten „woken“ Mode widerspricht. Die Überzeugung, das Recht auf seiner Seite zu haben, führt nur zu schnell zu einer gefährlichen Selbstgerechtigkeit, die denen, die es anders sehen, Unrecht und Leid zufügt. Davor möge uns Gott bewahren.
Wer aber öffnet seinen Mund eigentlich für die Schwächsten der Schwachen?-
Gemäss offiziellen Angaben der WHO werden weltweit jedes Jahr weit über 50’000’000 Kinder im Mutterleib getötet. In unserem Land waren es gemäss des Bundesamtes für Statistik 11’143 ungeborene Kinder, denen im Jahr 2020 das Leben genommen wurde. Das sind pro Tag 30 Kinder. –
Es ist angebracht und gut, den Mund aufzutun und sich einzusetzen für das Recht der Schwachen. In der Schweiz hat das eine lange Tradition: Noch immer misst sich ja gemäss unserer Verfassung „die Stärke unseres Landes am Wohl der Schwachen“. Doch sollten wir dabei nicht den Massstab aus den Augen verlieren. Stumm und schwach sind nicht diejenigen, die in den neuen Netflixserien überall vorgezeigt werden, die in den Medien landauf landab zu Wort kommen mit ihren manchmal berechtigten, häufig belanglosen Anliegen, die in den sogenannten „sozialen Medien“ abertausende Zuschauer haben für ihre neuartigen „Lebensentwürfe“. Stumm sind die wirklich Schwachen. Diejenigen, die entweder noch gar keine Stimme haben, oder aber diejenigen, deren schwache Stimme im Lärm der Selbstgerechten untergeht.-
Für sie unseren Mund aufzutun, sind wir dazu bereit?
Hundwil, im Juni 2022, Pfarrer David Mägli
Quelle: Hondwiler Blättli, 3. Quartal 2022